10. Dezember 2019

Live and let live: Zur markenrechtlichen Koexistenz – Urteil BGer, 4A_22/2019 – OTTO/OTTO’S

Die Schweizer OTTO’S AG (Beschwerdeführerin), Inhaberin der Marken «OTTO’S» und «OTTO’S Warenposten», und die deutsche OTTO GmbH & Co KG (Beschwerdegegnerin), Inhaberin der Marken «OTTO» und «OTTO-Versand», koexistierten mit ihren Marken während mehreren Jahrzehnten nebeneinander auf dem Schweizer Markt. Obwohl die deutsche OTTO entsprechende Domainnamen unterhielt, bot sie in der Schweiz unter ihren Marken keine Waren im Onlinehandel an. Im Jahr 2016 kündete sie allerdings an, sie werde auch in der Schweiz mit der Marke «OTTO» auftreten, einen Onlineshop eröffnen und im Kataloggeschäft tätig sein. Die Schweizer OTTO’S AG ging hiergegen vor.
In der Folge des zunächst ergangenen Massnahmenentscheids, in welchem der deutschen OTTO die Tätigkeit als Versandhändlerin unter den Kennzeichen «OTTO» und «OTTO-VERSAND» in der Schweiz verboten wurde, hiess das Bundesgericht die Beschwerde im Hauptverfahren teilweise gut. Es stellte fest, dass den Marken der OTTO Hinterlegungspriorität gegenüber derjenigen der Schweizer OTTO’S AG zukam. Allerdings habe die OTTO ihre Rechte verwirkt, indem sie den Gebrauch der jüngeren Marke «OTTO’S» geduldet habe. Es bestehe eine «markenrechtliche Koexistenz», in welcher keine der Parteien der anderen den Gebrauch der eigenen Marke verbieten könne.
Dieses Urteil erinnert an das «Peek & Cloppenburg» Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs und die darin weiterentwickelte Theorie der Gleichgewichtslage (BGH, Urteil vom 14. April 2011 «Peek & Cloppenburg» – I ZR 41/08). In beiden Fällen führte die Jahrzehnte andauernde gegenseitige Duldung eines Kennzeichengebrauchs zu einer Koexistenz und damit zu einer Gleichgewichtslage, die durch einseitige Handlungen einer Partei verändert wurde.
Während es den Parteien im Urteil des BGH untersagt wurde, eine bestehende Gleichgewichtslage durch die Eintragung von zusätzlichen Marken zu stören, entschied das Bundesgericht, dass die Inhaber von eingetragenen, koexistierenden Marken einander nicht verbieten dürfen, diese zu nutzen. Die Schweizer OTTO’S AG durfte daher der OTTO die neue Tätigkeit als Versandhändlerin sowohl im Online- als auch im Katalogvertrieb nicht gestützt auf das MSchG verbieten.
Das Bundesgericht stützte die Gutheissung der Beschwerde auf Lauterkeitsrecht (UWG), indem es feststellte, dass auch wenn die OTTO’S AG nur rund 2% ihres Gesamtumsatzes im Onlinehandel erzielte, die Vorinstanz zu Unrecht das Vorliegen einer Verwechslungsgefahr nicht geprüft habe. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Insbesondere im Hinblick auf die Entscheide BGer, sic! 1997, 595 – Anne Frank (Namensrecht) und BGer, 4A_83/2018 – Pachmann / Bachmann (Firmenrecht) stellt sich die Frage, ob der markenrechtlichen Lehre zur Störung der Gleichgewichtslage nicht auch in der Schweiz mehr Raum gegeben werden sollte.