EuGH-Rechtsprechung zu ergänzenden Schutzzertifikaten (ESZ) und die Schweizer Rechtsprechung und Erteilungspraxis
Ausführungen des IGE in Ergänzung zum Beitrag «Neue ESZ Prüfungspraxis des IGE» von Martin Wilming, Hepp Wenger Ryffel in der LES-CH Ausgabe Mai 2019.
Die Schweiz übernahm 1995 im autonomen Nachvollzug den materiellen Gehalt der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (heute Verordnung (EG) Nr. 469/2009). Der Gesetzgeber strebte dabei an, das schweizerische Recht mit dem europäischen möglichst kompatibel auszugestalten (BBl 1993 III 706).
Nach ständiger Rechtsprechung des BGer zum nachvollzogenen EU-Recht ist dieses im Zweifel europarechtskonform auszulegen. Eine Harmonisierung mit dem EU-Recht ist dabei auch in Auslegung und Anwendung des Rechts anzustreben, soweit die binnenstaatliche Methodologie dies zulässt. Für die Auslegung der parallelen EU-Normen ist die Praxis des EuGH beachtlich. Die Angleichung der Rechtsanwendung hat auch die Weiterentwicklung des EU-Rechts im Auge zu behalten (u.a. BGE 137 II 199 E.4.3.1; BGE 129 III 335 E. 5.1; BGE 144 III 285).
Eine solche Weiterentwicklung europäischen Rechts ergab sich aus den zwischen 2011 und 2013 ergangenen Urteilen des EuGH. Darin lehnte der Gerichtshof den vom IGE angewendeten Verletzungstest (BGE 124 III 375, «Fosinopril») als Auslegungsansatz für die ESZ-Erteilungsvoraussetzung «durch das Grundpatent geschützt» ab, u.a. in seinen Entscheiden «Medeva» C-332/10 und «Eli Lilly» C-493/12.
Im Lichte der BGer- Rechtsprechung zum nachvollzogenen EU-Recht und der gesetzgeberischen Leitlinie einer Kompatibilität zwischen Schweizer und EU-Recht begann das IGE 2014 einen Konsultationsprozess mit den interessierten Kreisen durchzuführen zu den Fragen, ob und gegebenenfalls wie die EuGH-Entscheide umgesetzt werden könnten. Das IGE entwickelte zusammen mit den Beteiligten einen Umsetzungsansatz zur «Medeva et al.»-Rechtsprechung sowie fiktive Fallbeispiele dazu als Interpretationshilfe. Die forschende und generische pharmazeutische Industrie setzte sich anschliessend für eine rasche Umsetzung des erarbeiteten Auslegungsansatzes ein (www.ige.ch/de/ recht-und-politik/immaterialgueterrecht-national/ praxisaenderungen.html).
Mit Urteil vom 11. Juni 2018 wurde die Abkehr vom «Verletzungstest» als Auslegungsgrundlage zu Art. 140b Abs. 1 lit. a PatG bundesgerichtlich bestätigt. Die Vorschrift ist «entsprechend dem europäischen Vorbild so auszulegen, dass die Wirkstoffe des Erzeugnisses im Grundpatent beansprucht werden müssen, indem sie in den Patentansprüchen benannt werden, oder indem sich die Patentansprüche – im Lichte der Beschreibung (Art. 51 Abs. 3 PatG, Art. 69 EPÜ 2000) ausgelegt – zumindest stillschweigend, aber notwendigerweise auf diese Wirkstoffe beziehen, und zwar in spezifischer Art und Weise» (BGE 144 III 285, «Tenofovir»).
Das BGer wiederholte seine Grundsätze zur europarechtskonformen Auslegung bei autonomen Rechtsnachvollzug. Eine abweichende EuGH-Praxis kann ein ernsthafter Grund für eine Praxisänderung sein, wenn die vom Gesetzgeber angestrebte Angleichung des schweizerischen Rechts an das europäische beibehalten werden soll. Das BGer betont, dass dabei stets zu prüfen sei, ob die vom EuGH erkannte Lösung im Bereich dessen liegt, was der schweizerische Gesetzgeber mit der autonom nachvollzogenen Regelung anstrebte oder ob im Gegenteil bessere Gründe für die abweichende schweizerische Rechtspraxis sprechen. Im vorliegenden Fall war die unterschiedliche konzeptionelle Auslegung der ESZ-Erteilungsvoraussetzung «durch das Grundpatent geschützt», in der EU gemäss «Offenbarungstheorie» bzw. in der Schweiz gemäss «Verletzungstheorie» auschlaggebend für die Rechtsprechungsänderung. Ein solches unterschiedliches Verständnis verhindere eine parallele Weiterentwicklung der Rechtspraxis zu den ESZ und verfehle das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel, das Schutzniveau für ESZ in der Schweiz mit demjenigen in der EU in Einklang zu bringen.
Das IGE änderte seine Erteilungspraxis im Anschluss an das BGer-Urteil und übernahm den erarbeiteten Umsetzungsansatz in seine Prüfungsrichtlinien (Kapitel 13.2.1). Zudem veröffentlichte es die fiktiven Fallbeispiele als Interpretationshilfe zur neuen Praxis (Webseite des IGE, unter Recht und Politik/Praxisänderungen, https://www.ige.ch/de/ recht-und-politik/immaterialgueterrecht-national/ praxisaenderungen.html).
Die autonome Anpassung von EU-Recht ist ein Aspekt des Gesetzgebungsprozesses, bei dem der Schweizer Gesetzgeber die Intensität der Übernahme der EU-Regelungen bestimmt. Aus dieser Autonomie bei der Gesetzesgestaltung ergibt sich auch eine Autonomie in seiner Auslegung. Eine Auslegung gemäss EuGH-Praxis wäre zunächst grundsätzlich nur überlegenswert, soweit eine Harmonisierung des Schweizer mit dem EU-Recht stattgefunden hat. Gleichzeitig können auch im nachgevollzogenen Recht Eigenheiten oder unterschiedliche Ziele der Schweizer Rechtsordnung einer Auslegung nach EuGH-Rechtsprechung entgegenstehen. Es können, um das BGer zu zitieren «im Gegenteil bessere Gründe für die abweichende schweizerische Rechtspraxis sprechen». Die Vorgabe einer europarechtskonformen Auslegung bedeutet entsprechend keine automatische und ungeprüfte Übernahme der EuGH-Praxis. Dieser Grundsatz gilt auch für die Verwaltung, d.h. hier das IGE.